28. Dezember 2015


Der Abschied von Dennis –

mein Weg in die Trauerarbeit

von Birgit Rosendahl

Warum schreibe ich diese sehr persönlichen Erlebnisse auf? Ich möchte den Leser motivieren, den Abschied eines lieben Menschen zu gestalten, diesen schlimmen Schmerz zu leben und auszuhalten. Wenn wir uns dem Tod stellen, können wir ihn im wahrsten Sinn des Wortes be-greifen und anfassen!

Abschied von Dennis

 

Mein Sohn Dennis starb vor sechs Jahren nach nur dreimonatiger Erkrankung an Leukämie. Dennis wurde 25 Jahre alt. 

Ich war allein mit meinem sterbenden Sohn im Krankenhaus und mir war sofort klar: Wir werden Dennis nach seinem Tod nach Hause holen! Die Stunden, die ich mit meinem toten Sohn noch auf der Station verbringen durfte, wollte ich –  ganz egoistisch – für mich haben … So wie ich ihn geboren hatte. Nur wir zwei allein, Mutter und Sohn.


 

Nach etwa drei Stunden habe ich mich von Freunden abholen lassen, denn ich konnte meinem Mann und Dennis' Geschwistern keine 30 Kilometer lange Fahrt zumuten, mit dem Wissen, dass Dennis tot ist!


 

Zuhause angekommen lagen wir uns sehr lange und fassungslos in den Armen … und weinten.

Als ich wieder sprechen konnte, erzählte ich meiner Familie von meiner Idee, Dennis ein letztes Mal nach Hause zu holen. Sie waren sofort einverstanden, denn meiner Familie war es nicht fremd, mit lieben Verstorbenen zusammen im Haus zu sein. Meine Schwiegermutter und auch mein Vater sind vor vielen Jahren zuhause gestorben und für beide wurde eine Aussegnungfeier zelebriert.



 

Mit unserem Bestattungsunternehmen wurde alles besprochen, und sie ermöglichten unsere Wünsche. Am nächsten Tag dann würde es soweit sein. Dennis sollte nachmittags bei uns eintreffen. Während ich mich mittags kurz hinlegte, um Kraft zu schöpfen, kam mir der Gedanke, dass es sicher schön wäre, wenn Dennis' Motorräder draußen stehen würden, wenn er kommt. Denn er war ein leidenschaftlicher Biker. Nachdem ich wieder aufgestanden war, wollte ich meinem Mann von meiner Idee berichten. Ich gehe nach draußen, wo er auf einer Bank saß und sehe: Mein Mann und unser ältester Sohn hatten schon alle Fahrzeuge von Dennis fuhrparkmäßig aufgefahren!  Sein Auto, die Motorräder und selbst seine Fahrräder standen bereit … Und wieder wussten wir alle vor lauter Tränen nicht wohin mit uns.


Dann war der Moment gekommen … Der Totenwagen brachte unseren Sohn. Der Sarg wurde ins Wohnzimmer getragen und geöffnet. Dennis schaute sehr friedlich, fast lächelnd aus und seine Lieblingskleidung hatte er schon an.  



 

Die ersten Minuten gehörten ganz ihm und seiner engsten Familie. Wir sprachen mit ihm, streichelten und küssten unseren Sohn und Bruder ... Seine Lieblingsmusik lief leise im Hintergrund und viele Kerzen brannten.



 

Wir gaben Dennis einige Dinge mit in seinen Sarg, die ihm viel bedeutet haben oder die er gerne mochte: sein Kuscheltier aus Kindertagen, seine Motorradhandschuhe, eine Flasche Cola, sein Tischtennisschläger und ein von seiner Schwester gezeichnetes Bild von Dennis' geliebtem Motorrad, seiner Honda VFR 400. 

Später kamen geladene Gäste ins Haus, Freunde von Dennis und uns, auch einige Nachbarn. Es wurde viel geweint, aber auch schöne „Weißt du noch?-Geschichten“ erzählt. Dennis war und ist uns sehr nahe, sowohl im Tod wie auch in seinem Leben.


 

Am Abend kam unser Pastor ins Haus, um mit uns die Aussegnungfeier zu halten, ein Traueritus, in dem der Verstorbene noch ein Mal einen Segen bekommt, bevor er zur Trauerhalle überführt wird. 



 

Als Dennis zur Trauerhalle gebracht werden sollte, sprach mich eine Freundin an: „Mögt ihr Dennis nicht mit seinen Fahrzeugen, die draußen stehen zur Halle begleiten?“ Welch eine ergreifende Idee Ich antwortete nur: „Das können wir im Moment nicht … Wir können kaum stehen, geschweige denn fahren, aber wenn ihr das machen würdet, wäre das sehr schön!“ So wurde dann  die letzte Fahrt unseres Sohnes ein Trauerzug durch unsere kleine Gemeinde … 



 

 

Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser so gestaltete Abschied von Dennis uns als Familie bei der späteren Trauerarbeit sehr geholfen hat. Denn wir alle haben be-griffen, dass Dennis tot ist,  aber durch all die schönen Erinnerungen in uns weiter lebt ... Und das ist bis heute so.

Von und mit eigener Trauer zur Trauerbegleiterin … mein Weg!

 

Nachdem Dennis starb, passierte uns das, was so viele von uns verwaisten Eltern erleben mussten: Sehr viele unserer Freunde, Nachbarn und Bekannten zogen sich von uns zurück. Sie schafften es nicht, uns in unserer tiefen Trauer auszuhalten! Auf einmal waren wir allein. Das war etwas, was ich mir niemals habe vorstellen können. In meiner Naivität habe ich gedacht: “Dennis ist gestorben,  aber wir sind nicht allein. Wir haben sehr viele Menschen um uns – mit deren Unterstützung werden wir ÜBERLEBEN!“

Das war eine vollkommene Fehleinschätzung. 

 

Nach einigen Monaten hörte ich, dass der Superintendent, der Leiter des evangelischen Kirchenkreises, unsere kleine Kirchengemeinde besucht. Er hatte angekündigt, mehrere Familien im Ort zu besuchen, darunter eine Unternehmerfamilie und auch eine Familie mit einem Bauernhof. Jedoch nicht in eine Familie wie unsere, die gerade so litt und Beistand nötig hatte. Enttäuscht rief ich den „Kirchenmann“ an und fragte ihn mit großer Wut im Bauch: “Warum gehen sie als Pastor nicht ein Mal in eine Familie, wo großes Leid ist? Ist das nicht die eigentliche Aufgabe der Kirche?“

Und ja, der Superintendet hat uns besucht! Wir haben unsere Enttäuschung zum Ausdruck gebracht, wirkliche Antworten hatte er nicht für uns. Jedoch viel Verständnis für unsere Mitmenschen: Es ist ja so schwer mit Trauernden umzugehen, da möchte wohl niemand ran, denn es tut dann unserer Umwelt so weh … 

Nach einiger Zeit dann fragte er mich, ob ich nicht eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin machen möchte … Die Kirche würde es mir auch finanzieren. Na, dachte ich, der macht es sich ja einfach,  aber dann habe ich mich informiert. Es wurde eine Ausbildung über die Dauer von 1,5 Jahren angeboten. Ich meldete mich tatsächlich an. Und ich lernte. Ich lernte so viel über die Trauer, aber noch mehr über mich … Mein Abschlussarbeit trug den Titel: „Erste Schritte. Begleitung von Familien unmittelbar nach dem Tod eines Kindes.“

 

Ich habe während der Seminare nicht nur viel über mich und meine Trauer, sondern auch die Andersartigkeit der Trauer meines Mannes und der Geschwister gelernt. Das alles war für  unsere Restfamilie überlebenswichtig, denn wir hatten durch die Seminare jedes Mal wieder neuen Gesprächstoff in der Familie und konnten so die Sprachlosigkeit, die sich vorher eingeschlichen hatte, überwinden. Heute können mein Mann, Dennis' Geschwister und ich uns gegenseitig wieder unterstützen und tragen. Und ganz wichtig: Dennis lebt mit uns mit, wie seine Schwester immer sagt. 

Die Trauer um unsere Kinder ist so schwer in Worte zu fassen und zu begreifen, dass es selbst professionelle Trauerbegleiter mit unserer „besonderen“ Trauer schwer haben können – es sei denn, sie sind selbst betroffen und wissen wie es sich anfühlt, wenn ein Kind gestorben ist oder aber sie verfügen über besonders viel Empathie.
Die bedingungslose Liebe zu einem Kind beginnt schon vor der Geburt. Unsere Kinder sind ein Teil von uns und sie sind ein Teil ihrer Eltern. Wenn dieses Kind dann stirbt, kann es sich für die Eltern anfühlen, als hätten sie versagt, als hätten sie ihre ureigenste Aufgabe, dass Kind zu beschützen, nicht erfüllt … 

 
Diese bedingungslose Liebe erschwert die Trauer sehr. Wir Eltern müssen lernen, dass wir unser verstorbenes Kind auch im Tod genauso weiter lieben dürfen. Aus dieser großen Liebe entsteht eine Trauer, die um ein Vielfaches tiefer ist als jede andere Trauer. Fast möchte ich sagen: Sie kann lebenszerstörend sein! Umso schwerer und intensiver ist die Begleitung von verwaisten Eltern –  auch für Trauerbegleiter.

Inzwischen arbeite ich ehrenamtlich als Trauerbegleiterin bei einer diakonischen Lebensberatungsstelle, und mein Angebot wird gut angenommen. Mein eigentliches Ziel, Familien unmittelbar nach dem Tod eines Kindes zu unterstützen, konnte ich bisher leider noch nicht umsetzten.Es ist mir in unserer Kleinstadt bisher nicht gelungen, das dazu nötige Netzwerk aus Notfallseelsorgern, Bestattern und anderen Trauerbegleitern zu bilden, aber ich werde mein Ziel nicht aus den Augen verlieren.
Meine jetzige Tätigkeit erfüllt mich aber auch, denn oft höre ich von Trauernden: „Ich bin ja doch ganz normal mit meinen Gefühlen und meiner Trauer.“ Genau das ist es doch, was  Trauernden in unserer schnelllebigen Gesellschaft oft abgesprochen wird, besonders dann, wenn die Trauer nicht schnell „abgearbeitet“ werden kann. Sechs Wochen müssen da heute ausreichen, meinen viele Menschen. Das ist aber fast nie der Fall, denn Trauer endet nicht. Sie verändert sich aber im Laufe der Zeit – das kann auch viele Jahre bedeuten.

Für meine weitere ehrenamtliche Tätigkeit würde ich mir wünschen, noch mehr in das Team der diakonischen Lebensberatungsstelle (Sozialarbeiter, Psychologen und Therapeuten) eingegliedert zu sein, um wirklich miteinander arbeiten zu können und nicht wie bisher, eher neben einander.

 

Liebe Leser, ich habe diese Zeilen in erster Linie geschrieben, um Ihnen darzulegen, dass jeder von uns seinen ganz eigenen Trauerweg gehen darf. Gerade dann, wenn man die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen entgegen nehmen muss … Sie haben viel Zeit! Sie müssen nicht sofort einen Bestatter rufen und ihm all die Dinge, die nun nötig sind überlassen. Sie dürfen vieles Selber machen oder mitgestalten. Sie dürfen sich einbringen und Wünsche äußern. Sie dürfen ihren Verstorbenen selbst waschen und ankleiden oder bei einer Kremierung, den Sarg selbst dem Feuer übergeben und Vieles mehr. Bitte informieren Sie sich und sprechen Sie mit Ihrem Bestatter über die Möglichkeiten – das kann ein guter Beginn Ihres Trauerweges sein.

Birgit Rosendahl, 55 Jahre alt, ist verheiratet und Mutter von 3 erwachsenen Kindern. Sie lebt mit ihrem Ehemann in einem kleinen Stadtteil von Melle im Osnabrücker Land (Niedersachsen). Die gelernte Krankenschwester und heutige Frührentnerin arbeitet seit drei Jahren ehrenamtlich als Trauerbegleiterin. 

Fehlt Ihnen ein Zeichen zur Anteilnahme? Tragen Sie Ihren Lichtpunkt. Setzen Sie Ihr Zeichen!

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Kommentare: 5
  • #1

    REnate Ernsting (Montag, 28 Dezember 2015 19:41)

    Liebe Birgit, einfach " wunderbar", auch Corinna ist zuhause gestorben, wurde aber am nächsten Morgen abgeholt...als ich den Plastiksack sah, lief ich schreiend durch das Haus. >Ja man ist nicht aufgeklärt genug. Danke für Deine Worte, damit wirst Du vielen Menschen helfen können, einfach einmalig, Danke Dir.

  • #2

    Daniela Döllerer (Montag, 28 Dezember 2015 21:32)

    Liebe Birgit ,
    ich kann mich Ihren Zeilen nur anschließen. Danke das Sie Ihre Geschichte an uns weitergegeben haben.
    Im Schicksal verbunden
    Lg. Daniela Döllerer

  • #3

    Heike (Mittwoch, 30 Dezember 2015 17:56)

    Liebe Birgit
    Auch wenn ich euer Schicksal kenne, so habe ich zutiefst berührt deine Zeilen gelesen.
    Du hast das wunderbar geschrieben, möge es anderen eine Hilfe in ihrer unendlichen Trauer sein.
    Ich umarme dich, in leiser Verbundenheit
    Heike mit Oliver

  • #4

    Dorit (Dienstag, 01 Mai 2018 13:18)

    Liebe Birgit. Ich weiß was es bedeutet ein Kind zu verlieren. Unsere Tochter ist von jetzt auf gleich verstorben. 14.12.15. Unfassbar und nicht zu verstehen. Deine Ausbildung zur trauerbegleiterin einfach toll. Man braucht sie. Man fühlt sich allein gelassen. Ich umarme dich. In stiller Verbundenheit. Dorit

  • #5

    Monika Dössinger (Freitag, 25 Dezember 2020 00:12)

    Hallo liebe Birgit,
    Bin gerade "zufällig " auf diesen Artikel von dir gestoßen. Mein Sohn ist vor 2,5 Jahren gestorben und heute ist Heilig Abend....es ist fast unerträglich, es tut gerade an Weihnachten soo weh...
    Mich würde interessieren, wie du es geschafft hast, diesen Tag zu "überleben "...?
    Liebe Grüße Monika